Ausbildung in der Orthopädietechnik
Branche mit Zukunft: Orthopädietechnik| Foto: Thinkstock/Jupiterimages
Wichtigste Voraussetzung: Fingerspitzengefühl
Dass Chantal Bechthold Orthopädiemechanikerin wurde, verdankt sie vor allem einem glücklichen Zufall: Nach Abbruch ihres Studiums war sie auf der Suche nach einer passenden Ausbildungsstelle, als ihre Mutter, eine Altenpflegerin, bei der Arbeit zufällig einem Orthopädiemechaniker mit einer Beinprothese für einen Patienten begegnete. "Sie hat sich ein ganzes Weilchen mit ihm über seinen Beruf unterhalten und mir so letztlich indirekt den Ausbildungsplatz besorgt", erzählt die 30-Jährige lachend.
Ohne große Vorstellung über ihren späteren Beruf begann sie schließlich die dreieinhalbjährige Ausbildung in einem kleinen Sanitätshaus in Rheine. "Mich hat das Ganze dann aber sehr schnell gepackt. Gerade der Kontakt mit den Menschen und die Möglichkeit, ihr Leben zu verbessern, war für mich entscheidend", sagt sie. Eine Motivation, die für ihre Arbeit überaus wichtig ist, denn der Umgang mit Menschen mit einem konkreten Hilfsbedürfnis ist nicht immer leicht. Die Schicksale verunfallter Menschen sind oft bewegend und bei frischen Amputationen oder Querschnittlähmungen braucht es viel Fingerspitzengefühl und gleichzeitig eine professionelle Distanz. Diese sozialen Komponenten des Handwerksberufs dürften ein Grund dafür sein, dass beinahe 40 Prozent aller Orthopädiemechaniker weiblich sind – ein absoluter Spitzenwert im Handwerk.
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Ein ganz besonderes Verhältnis zum Patienten
Den größten Teil des Alltags nimmt allerdings die Arbeit in der Werkstatt ein. "Viele Einzelteile der Prothesen und anderer Hilfsmittel werden natürlich industriell gefertigt. Entscheidend ist jedoch die individuelle Zusammenstellung der Module", erklärt Bechthold. So besteht zum Beispiel eine Unterschenkelprothese aus Fuß und Bein, je nach Anspruch des Patienten werden diese Einzelteile kombiniert. Individuell ist auch der Schaft, also die Verbindung zwischen Stumpf und Prothese. "All das muss ganz genau angepasst werden, um Druckstellen und Wunden zu verhindern. Der Patient kommt deshalb auch mehrmals zur Anprobe, bis er mit der Prothese optimal laufen kann", sagt sie.
Zwischen dem Patienten und seinem Orthopädiemechaniker entsteht so oft ein ganz besonderes Verhältnis, wie auch Sprinter Heinrich Popow bestätigt. Der paralympische Goldmedaillen-Sieger schläft sogar mit Zettel und Stift neben seinem Bett. "Wenn mir Verbesserungsmöglichkeiten für meine Prothese einfallen, kann ich die Entwickler bei Otto Bock rund um die Uhr anrufen", sagt der Athlet und fügt hinzu. "Beide Seiten müssen sich genau austauschen. Bei einer Prothese kann man viel falsch machen, sowohl im Alltag als auch im Sport."
Viel Aufmerksamkeit bescherten der sportlichen Seite der Branche die Paralympischen Sommerspiele in London. Im Fokus standen dort nämlich nicht nur die großartigen sportlichen Leistungen, sondern auch die Technik, die diese häufig erst möglich macht. Im Stadion und am heimischen Fernseher verfolgten Millionen Menschen vierzehn Tage lang die Starts beinamputierter Sprintstars wie Oscar Pistorius oder Heinrich Popow, sahen unglaubliche Zeiten und Weiten und staunten über die Schnelligkeit des Rollstuhlbasketballs.
Otto Bock, Marktführer und Hauptsponsor der Spiele aus dem niedersächsischen Duderstadt, war in London mit knapp 80 Orthopädietechnikern vor Ort, um die Athleten aus aller Welt mit ihren Prothesen und Rollstühlen zu versorgen. In zwei Wochen wurden dabei mehrere Tausend Wartungs- und Reparaturarbeiten für die 4.200 Athleten durchgeführt. "Seit Langem ist die Unterstützung der paralympischen Bewegung fester Bestandteil unserer Unternehmenskultur. Auf inspirierende Weise zeigen die Paralympics, dass Menschen mit eingeschränkter Mobilität nicht nur ein aktives Leben führen, sondern auch beeindruckende athletische Erfolge erzielen können", erklärt Prof. Hans Georg Näder, Geschäftsführender Gesellschafter von Otto Bock.
Wachstumsmarkt mit Verantwortung
Dieses aktive Leben findet natürlich auch außerhalb der Paralympics statt und macht die Branche zu einem Wachstumsmarkt mit verantwortungsvollen Aufgaben. "Unfälle, Krankheiten wie Krebs oder Diabetes, aber auch typische Alterserscheinungen machen eine sehr individuelle Versorgung nötig. Der entsprechend vielseitige Bedarf besteht in allen Altersstufen", erklärt Prof. Dr. Klaus Peikenkamp vom Fachbereich Physikalische Technik der Fachhochschule Münster und Leiter des Studiengangs "Technische Orthopädie". Das Leistungsspektrum reicht dabei von computergesteuerten Beinprothesen über Rollstühle bis hin zu Einlagen, Schuhen oder kleineren Gehhilfen. "Die Entwicklungen auf dem Gebiet der technischen Orthopädie sind rasant. Die Einschränkungen durch zum Beispiel eine Amputation sind heute deutlich geringer als noch vor einigen Jahren", sagt er.
Zwar gibt es immer noch ältere Patienten, die sich ohnehin nur in einem kleinen Radius vielleicht innerhalb der eigenen Wohnung oder auf der Straße bewegen. Die Tendenz geht aber klar zu hochtechnisierten Hilfsmitteln, an deren Entwicklung ganze Forschungsabteilungen beteiligt sind. "In den Entwicklungsabteilungen arbeiten viele Ingenieurwissenschaften zusammen, von der Elektrotechnik über den Leichtbau bis hin zur Feinmechanik. Auch Absolventen der technischen Orthopädie sind entsprechend begehrt", so Peikenkamp. Computergesteuerte Prothesen, die sich dem Untergrund und dem Bewegungsablauf des Trägers anpassen, gehören heute schon fast zum Standard. Die nächste Entwicklungsstufe ist die Steuerung über Gedanken und Muskelimpulse, wie der Forscher erklärt: "Ziel ist die Verbindung zwischen Prothese und dem entsprechenden Teil der Großhirnrinde, der für die Steuerung von Bewegungen zuständig ist."
Auch für Chantal Bechthold ist die Entwicklung neuartiger Hilfsmittel eine reizvolle Karriereoption. Sie steht kurz vor ihrem zweifachen Bachelorabschluss in "Technischer Orthopädie" und "Wirtschaftsingenieurwissenschaften" an der FH Münster. "Nach mehreren Jahren im Job habe ich mich ganz bewusst nochmals für ein Studium entschieden. Der Bachelor of Engineering eröffnet mir einfach noch mehr Möglichkeiten", sagt sie. Neben Grundlagen wie Mathe, Physik oder Elektrotechnik standen zuletzt auch Fächer wie Biomechanik, Medizintechnik sowie BWL und Rechnungswesen auf ihrem Stundenplan. Sorgen um ihre berufliche Zukunft muss sich die 30-Jährige wohl nicht machen, denn Absolventen der technischen Orthopädie sind mit ihrem Know-how durchaus auch in der Automobilbranche oder im Leichtbau gefragt. "Ein ehemaliger Kommilitone von mir wirkt zum Beispiel an der Entwicklung sicherer Autositze mit. Ich persönlich würde der Branche allerdings gerne treu bleiben, in der Entwicklung oder im Produktmanagement. Ich habe einfach das Gefühl, etwas sehr Sinnvolles zu tun", erklärt die 30-Jährige.
Orthopädietechnik in Zahlen
Die Orthopädietechnik ist mit knapp vier Milliarden Euro Gesamtumsatz und knapp 1.850 Betrieben zwar eher ein Nischenmarkt, trotzdem sind die Perspektiven der Branche ausgezeichnet. Derzeit leben in Deutschland mehr als vier Millionen Menschen mit Bedarf an orthopädietechnischen Hilfsmitteln wie Prothesen, Einlagen, Rollstühlen oder Toilettensitzen. Der demographische Wandel und die Umkehrung der Alterspyramide sorgen dafür, dass die Nachfrage nach diesen Leistungen auf absehbare Zeit weiter steigen wird. Dementsprechend positiv sind auch die Prognosen von Branchenvertretern, die in den nächsten Jahren von starken Umsatzzuwächsen ausgehen. Der Markt ist von klein- und mittelständischen Betrieben dominiert. So machen Fachbetriebe, bestehend aus Geschäft und Werkstatt, mit sechs bis zehn Mitarbeitern und einem durchschnittlichen Umsatz von 800.000 Euro knapp 30 Prozent der Firmen am Markt aus. Selbst ein Branchenprimus wie Otto Bock ist mit knapp 5.000 Mitarbeitern ein eher überschaubarer Mittelständler.
Ausbildung und Studium
Deutschland ist das einzige europäische Land, in dem Orthopädietechnik kein flächendeckender Studiengang ist. Nur in Münster ("Technische Orthopädie") und Göttingen ("Orthobionik" in Kooperation mit Otto Bock) gibt es entsprechende Studienangebote und auch hier ist eine abgeschlossene Ausbildung zum "Orthopädiemechaniker" in der Regel Zulassungsvoraussetzung. Die dreieinhalbjährige Ausbildung gilt als äußerst anspruchsvoll, immerhin stehen neben technischem Wissen, Physik und Werkstoffkunde auch Anatomie, Biomechanik und Pathologie auf dem Stundenplan. Dazu sollten die Auszubildenden Fingerspitzengefühl im Umgang mit teils frischverunfallten Menschen mitbringen und keine Berührungsängste vor Stümpfen und anderen Wunden haben.
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