KI im Bewerbungsverfahren: Funktioniert das wirklich?

KI im Bewerbungsverfahren: Funktioniert das wirklich?

KI ist inzwischen überall. Auch Unternehmen versprechen sich große Vorteile vom Einsatz von künstlicher Intelligenz bei der Personalauswahl. Mit ihrer zunehmenden Popularität wächst aber auch die Kritik an KI-gestützter Personalauswahl. Wir zeigen, welche Vorteile sie tatsächlich haben kann, was man beachten muss und wo es kritisch wird. Außerdem verraten wir dir, worauf es bei der Bewerberauswahl ankommt und was dabei in Zukunft wichtig wird. 

Gründe für den Einsatz von KI im Bewerbungsverfahren

Der Grund, warum Unternehmen im Bewerbungsverfahren auf KI setzen, liegt vor allem in den Vorteilen, die sie sich davon versprechen. Zu diesen Vorteilen gehören die Aspekte Effizienz und Kosteneinsparungen, Fairness und die Automatisierung von nutzerfreundlichen Recruitingprozessen.

1. Effizienz und Kosteneinsparungen 

KI im Bewerbungsverfahren soll vor allem Effizienz und damit Kosteneinsparungen bringen. Wo früher Sachbearbeiter /-innen die Bewerbungen im Posteingang sichteten, geben heute eigens dafür entwickelte, "intelligente" Programme den ersten Überblick über die Bewerber-Pipeline und sortieren sie vor. Viele der Lebensläufe, die dort abgelegt sind, bekommt nie ein Mensch zu Gesicht. Stattdessen filtern Systeme, die nach Schlagworten suchen, die vielversprechendsten heraus – und erst diese sieht sich dann ein Mensch an. 

2. Fairness

Aus diesem Grund propagieren einige der Hersteller entsprechender Software als Vorteil auch mehr Fairness und weniger Diskriminierung: Die Kandidatensuche soll nicht nur effizienter werden, sondern auch gerechter. Diesen möglichen Vorteil sehen auch die Experten /-innen vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag so: "KI-Systeme könnten dabei helfen, Auswahlentscheidungen zu objektivieren".

Durch die Möglichkeit, systematisch eine Vielzahl von Kriterien einzubeziehen, könnte eine ganzheitlichere Bewertung von Kandidatenprofilen erreicht werden, anstatt (subjektiv) bestimmte Indikatoren (z. B. den Abschluss an einer renommierten Hochschule) überproportional zu bewerten."

3. Nutzerfreundliche, einfache, automatisierte Recruitingprozesse: 

Ein weiterer Vorteil von KI findet sich im Kontext der Automatisierung von Bewerbungsprozessen. Bewerberauswahlprozesse sind heute stärker auf Nutzerfreundlichkeit ausgerichtet. KI-Funktionen – zum Beispiel ein Chatbot – bieten dabei eine 24/7-Erreichbarkeit und Antworten auf die gängigsten Fragen der Bewerberinnen und Bewerber. Der ganze Bewerbungsprozess wird dadurch unkomplizierter und niederschwelliger. 

Die Vorteile von KI im Bewerbungsverfahren auf einen Blick:

All die kleinen Unterstützungen sollten jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass dem Einsatz einer starken künstlichen Intelligenz im Bewerbungsprozess enge Grenzen gesetzt sind. 

KI bei der Bewerberauswahl: Risiken und Grenzen

Als Teil von automatisierten Prozessen, beispielsweise beim Einreichen der Bewerbungen, können KI-Anwendungen hilfreich und effizienzsteigernd sein. Auch für Bewerberinnen und Bewerber kann das Vorteile bieten. Doch was ist, wenn auch bei der Auswahl von Bewerber /-innen KI zum Einsatz kommt? Hier wird es kritisch. 

Was spricht gegen KI-gestützte Bewerberauswahl? 

Wird bei der Bewerber-Vorauswahl KI eingesetzt oder sogar die endgültige Auswahl weitgehend einer KI zu überlassen, kann das einige Nachteile mit sich bringen.

  1. Unklare Fundierung, intransparente Ergebnisse 

Nicht untypisch für neue Technologien ist, dass sie oft noch nicht perfekt ausgereift sind und dass klare Qualitätsstandards fehlen. So schildern Bewerber*innen, dass sie in KI-gestützten Personalauswahlverfahren verschiedene Aufgaben lösen mussten, deren Bezug zu persönlichen Eigenschaften und Kompetenzen der Bewerbenden sowie zu den Anforderungen der neu zu besetzenden Stelle äußerst dünn und unklar waren: Etwa virtuelle Luftballone möglichst lang aufblasen, aber nicht platzen lassen, was die Risikobereitschaft testen soll. Die Ergebnisse solcher Verfahren und ihre Validität und Aussagekraft sind sehr zweifelhaft.

Ebenfalls verwirrende Erfahrungen machten Bewerberinnen und Bewerber, wenn sie es mit der Software des Anbieters Paradox AI zu tun bekamen: Sie sahen sich einer animierten Figur eines blauhäutigen Aliens gegenüber, die in verschiedenen Situationen zu sehen war. Diese Situationen sollten von den Bewerber /-innen beurteilt werden. So sollte zum Beispiel zu einem Bild, das den Avatar beim Kochen zeigt, von den Bewerber /-innen gesagt werden, ob das ihnen entspricht – oder nicht („Me“ versus „Not Me“). Auch hier ist also sehr intransparent, wie aus den vom Avatar dargestellten Situationen valide Rückschlüsse auf die Persönlichkeit an sich oder speziell auf den beruflichen Bereich gezogen werden sollen.

  1. Der Einsatz von automatisierten Videoanalysen mit fragwürdigen Interpretationen

Während seltsame Fragen und Aufgabenstellungen mit unklarer Relevanz und wenig Bezug zum eigentlichen Job auch bei "klassischen" Auswahlverfahren anzutreffen sind, ist das beim Einsatz von Videoanalysen und deren Auswertung mit Hilfe von KI ganz anders. Denn was genau bei dieser maschinellen Auswertung passiert, erfahren die Bewerber /-innen nicht. Zudem ist sie auch wissenschaftlich äußerst umstritten.

Algorithmen transkribieren, was gesagt wurde, und werten aus, wie engagiert sich Bewerbende ausdrücken. Auch der Tonfall wird analysiert, zum Teil sogar Gesichtsbewegungen. Das überschreitet laut Forschenden die Grenze zur Pseudowissenschaft. Denn es ist mehr als umstritten, ob Gesichtsausdrücke und Stimme tatsächlich etwas über den Charakter aussagen. Auch die Datengrundlagen, anhand derer solche Fragen untersucht werden, sind recht dürftig. 

  1. Diskriminierung und Training der KI mit Hilfe von verzerrten Daten

Die angeblich objektiven KI-Lösungen sind durchaus anfällig für Diskriminierung. Und dieses Problem hat eine tiefergehende Ursache: Die KI-generierten Ergebnisse bzw. Vorschläge können immer nur so gut sein, wie die Datenbasis, auf die die KI zugreift. Ist die Datenbasis einseitig und selektiv, dann werden es auch die von der KI damit erzeugten Ergebnisse sein. Man spricht hier vom sogenannten Biaseffekt.

Ein Beispiel beim Internetgiganten Amazon zeigt, wie schnell KI-Einsatz zu Diskriminierung führen kann: Im Jahr 2018 wollte man einen Algorithmus entwickelt haben, der unter Bewerberinnen und Bewerbern die besten findet. Doch die Software und der Auswahlprozess landete schnell dort, wo man sie überhaupt nicht haben wollte: in der Presse. Der Vorwurf: Der Automatismus benachteiligte Frauen. Offenbar hatte die künstliche Intelligenz ein bestehendes Ungleichgewicht reproduziert. Amazon hatte schon immer viel mehr Männer eingestellt. Die KI hatte diesen Zustand gelernt. 

Das sagt die Forschung

Miriam Dachsel, die für Accenture Schweiz Unternehmen im Bereich «Talent & Organization» berät, sieht Software, die etwas über die Persönlichkeit aussagen soll, grundsätzlich kritisch: «Dazu gibt es aktuell noch keine wissenschaftlich überzeugenden Produkte auf dem Markt.»

Andere Experten stimmen mit ihr überein: "Unternehmen oder Bewerber /-innen sollten gesichtsbasierte Persönlichkeitstests, die als Produkt künstlicher Intelligenz deklariert werden, mit Skepsis begegnen.", so Prof. Dr. Walter Simon. Auch wenn Anbieter, wie das Start-up-Unternehmen Retorio mit Sitz in München verspricht, seine Software könne, ausgehend von einem kurzen Videointerview, „Verhaltensweisen erkennen und darauf aufbauend ein Persönlichkeitsprofil erstellen“ kann man auf diese Versprechungen nicht allzu viel geben. Bei dieser Art von computergestützter automatisierter Videoanalyse zum "Persönlichkeitscheck", der Mimik, Gestik und Sprache von Bewerber /-innen analysiert und auf dieser Basis dann ein Persönlichkeitsprofil ausspuckt, ist größte Vorsicht geboten, denn die Ergebnisse sind überhaupt nicht valide.  Zudem werde eine Pseudo-Objektivität und Genauigkeit vorgegaukelt wird, die sich schnell als unhaltbar erweist.

Auch die Nähe zur pseudowissenschaftlichen Physiognomik, die versucht, aus äußeren Merkmalen des Körpers, besonders des Gesichts, auf die seelischen Eigenschaften eines Menschen – also insbesondere dessen Charakterzüge und/oder Temperament – zu schließen, und die später im 19. und 20. Jahrhundert als wissenschaftlicher Unterbau für Rassismus und Eugenik diente, gebietet – schon aus historischen Gründen – größte Vorsicht gegenüber gesichtsanalytischen Deutungsversuchen, merkt Prof. Dr. Walter Simon an. Solche pseudowissenschaftlichen Ansätze, die in der Vergangenheit enorm viel Leid und Schaden verursacht haben, dürften auf keinen Fall, in ein neues "Hightech-Gewand" gekleidet, eine Renaissance feiern.

Was bedeutet das für Bewerber /-innen?

Grundsätzlich sollten Bewerber /-innen, aber auch Unternehmen an KI-gestützte Bewerberauswahl mit einer gesunden Portion Skepsis herangehen, nicht nur, weil die Technologie undurchsichtige Ergebnisse liefert, sondern auch, weil die Akzeptanz auf Bewerberseite fehlt. Der Weg zu einer KI, die wirklich den Mensch, seinen Charakter und seine Eigenschaften erfasst, ist noch weit. Vor dem Hintergrund des aktuellen Fachkräftemangels liegt im Einsatz von KI-Instrumenten daher eher ein Risiko als eine Chance.  

Man kann sich ja selbst fragen: Wer möchte sich schon von Algorithmen beurteilen lassen, deren Kriterien längst undurchsichtig geworden sind? Gerade in der Persönlichkeitsbewertung steht die KI im Verdacht, menschliche Vorurteile zu zementieren, statt sie abzubauen. 

Alternativen zum Einsatz von KI in Bewerbungsprozessen

Es gibt also noch viele ungelöste Probleme und viel berechtigte Kritik am Einsatz von KI in Bewerbungsprozessen. Zwei Punkte sind hier sehr wichtig: 

1. Ausschließlich professionell begleiteter Einsatz von validen Analyseinstrumenten  

Damit die Vorteile von Auswahlinstrumenten bei der Bewerberauswahl auch wirklich zum Tragen kommen, muss das Instrument selbst sowie der Prozess der Datenanalyse wissenschaftlich fundiert, valide und reliabel sein. Außerdem muss es ein hohes Maß an Objektivität und Transparenz gewährleisten. 

Wichtig für die Qualität des gesamten Auswahlprozesses ist zudem, dass Analyseinstrumente und Daten bei der Bewerberauswahl immer nur ein Werkzeug sein dürfen. Sie dürfen aber niemals die eigentliche Entscheidung zu sehr vorwegnehmen oder gar alleine treffen. Die Anwendung der verschiedenen Methoden muss in einen professionellen HR-Prozess integriert sein. Dies bedeutet auch, dass die Analysedaten immer als Grundlage für ein persönliches Gespräch dienen. 

2. Der "Faktor Mensch" bei der Bewerberauswahl 

Der Mensch ist im Auswahlprozess ein unverzichtbarer Bestandteil. Personalerinnen und Personaler treffen ja nicht nur Auswahlentscheidungen – sie sind auch ein Aushängeschild des Unternehmens, sie interagieren mit den Bewerberinnen und Bewerbern und in den persönlichen Gesprächen findet ein gegenseitiges Kennenlernen statt. Und genau hier wird die erste Basis für eine gute spätere Zusammenarbeit und für die so wichtige Identifikation und emotionale Bindung ans Unternehmen geschaffen. 

Auch wenn das Bedürfnis nach zunehmender Automatisierung und Effizienzsteigerung bei der Personalauswahl gerade bei großen Unternehmen nachvollziehbar ist: Sie kann, wenn sie übertrieben stark ausgereizt wird, schnell mehr Schaden als Nutzen stiften. Auch die aktuellen HR-Trends, wie die gestiegene Bedeutung der Employee-Experience, der Wandel des Arbeitsmarktes zum Bewerbermarkt und die Notwendigkeit, verstärkte Anstrengungen in Sachen Integration zu unternehmen sowie der Trend zum "Skills-based-hiring", bei dem es mehr auf konkrete Kompetenzen und weniger auf formale Bildungsabschlüsse und Qualifikationen ankommt, widersprechen alle der Idee, den Prozess der Rekrutierung und der Kandidatenauswahl zu stark zu automatisieren und zu vereinfachen.

Fazit und Ausblick

Die Unternehmen, die es sich zu einfach machen und nur noch auf KI setzen, werden viele wertvolle Bewerber /-innen von vornherein und aus den völlig falschen Gründen und Selektionsmechanismen heraus ausschließen. Sie werden eher "stromlinienförmige" Kandidatinnen und Kandidaten "von der Stange" erhalten, die das Unternehmen vielleicht ihrerseits nur als Durchgangsstation oder Karrieresprungbrett sehen. 

Die Unternehmen aber, die sich hier Mühe geben und die von Anfang an Zeit investieren und eine – in beiderlei Sinne des Wortes – menschliche Vorgehensweise wählen, werden in der Lage sein, die "hidden champions" zu erkennen und echte Potenzialträger gewinnen, die sich, gemeinsam mit dem Unternehmen, positiv entwickeln, die wachsen, und die Dinge möglich machen, die sich vorher niemand, egal ob Mensch oder KI, hätte vorstellen können.

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